ADHS im Beruf

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ADHS im Beruf und warum Führungskräfte dieses „andere Betriebssystem“ verstehen müssen!

ADHS wird in Unternehmen noch immer massiv unterschätzt – und missverstanden.
Viele denken an zappelnde Kinder, fehlende Disziplin oder schlicht „schnell ablenkbar“.

Doch genau dieses Bild ist gefährlich verkürzt:
ADHS ist eine komplexe neurobiologische Besonderheit, die sich bis ins Erwachsenenalter zieht und sich gerade im Arbeitskontext sehr deutlich zeigt – mit Risiken, aber auch mit enormen Potenzialen.

In Zeiten von Fachkräftemangel, Innovationdruck und New Work können sich Unternehmen nicht mehr leisten, neurodiverse Talente zu ignorieren. Führungskräfte, die ADHS verstehen, können aus vermeintlichen „Problemfällen“ plötzlich ihre kreativsten, mutigsten und leistungsstärksten Mitarbeiter machen.

Im Folgenden finden sich acht zentrale Wahrheiten über ADHS – jeweils mit einem Blick darauf, was das konkret für die Führung im Arbeitsalltag bedeutet.


Was ADHS wirklich ist – kurz für Führungskräfte erklärt

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist keine Charakterfrage und kein Erziehungsfehler, sondern eine andere Art, wie das Gehirn Informationen filtert, Emotionen verarbeitet und Aufmerksamkeit steuert.

Wichtig:

  • ADHS betrifft nicht nur Kinder
  • ADHS bedeutet nicht „dumm“ oder „unfähig“
  • ADHS ist häufig mit hoher Kreativität, Einfallsreichtum und ungewöhnlichen Lösungswegen verbunden

Unter der Oberfläche sieht ADHS im Beruf oft so aus: verlegte Unterlagen, chaotischer Schreibtisch, verpasste Deadlines – und gleichzeitig brillante Geistesblitze, starke Intuition und unglaublicher Fokus, wenn etwas wirklich interessiert.


1. Kein Aufmerksamkeitsmangel – sondern eine andere Aufmerksamkeitssteuerung

Das klassische Missverständnis: „ADHS-Menschen können sich nicht konzentrieren.“
Die Realität: Sie können sich oft extrem gut konzentrieren – aber nicht nach Knopfdruck und nicht immer auf das, was gerade auf der To-do-Liste steht.

Typisch ist der Hyperfokus:
Wenn ein Thema begeistert, kann stundenlang mit höchster Intensität gearbeitet werden, während alles andere ausgeblendet wird. E-Mails, Pausen, Anrufe – alles verschwindet aus dem Radar.

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • Aufgaben so verteilen, dass Mitarbeitende mit ADHS möglichst häufig an Themen arbeiten, die Interesse und Sinn auslösen
  • Wichtige Prioritäten klar benennen: „Das hat Prio 1, alles andere ist nachrangig“
  • Große Aufgaben in kleinere, klar definierte Schritte herunterbrechen, damit der Einstieg leichter fällt

2. ADHS verschwindet nicht mit dem Schulabschluss

Viele Erwachsene tragen ADHS unerkannt mit sich herum. Die Hyperaktivität nach außen kann abnehmen, die Unruhe im Inneren allerdings nicht. Sie zeigt sich dann als:

  • dauerhaftes Gedankenkreisen
  • Gefühl von Überforderung
  • Probleme mit Organisation und Zeitmanagement
  • ständiges „Feuerlöschen“ statt strategischem Arbeiten

Statt „zappelig“ wirken diese Personen oft gestresst, chaotisch oder „immer kurz vor knapp“.

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • Nicht vorschnell Faulheit oder Desinteresse unterstellen
  • In Feedbackgesprächen weniger über „Charakter“ sprechen, sondern über Strukturen, Abläufe und Hilfen
  • Offenheit signalisieren, dass Neurodiversität im Unternehmen ernst genommen und nicht stigmatisiert wird

3. ADHS-Gehirne brauchen Stimulation – und hassen monotone Routine

Das Nervensystem von Menschen mit ADHS reagiert stark auf Neues, Intensives, Spannendes.
Wiederholungen, starre Standards und reine Routineaufgaben können subjektiv fast schmerzhaft langweilig wirken.

Auf der anderen Seite blühen viele mit ADHS auf, wenn sie:

  • in Krisensituationen schnell reagieren müssen
  • kreativ denken dürfen
  • unkonventionelle Lösungen gefragt sind
  • mit Menschen interagieren und Energie im Raum spüren

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • ADHS-Mitarbeitende bewusst dort einsetzen, wo Dynamik, Ideenreichtum und Flexibilität gefragt sind
  • Routineaufgaben, wenn möglich, automatisieren, standardisieren oder im Team umverteilen
  • Vielfalt in den Aufgaben anbieten – z. B. Mischung aus Projektarbeit, Konzeptentwicklung und operativen Tätigkeiten

4. Rejection Sensitivity (RSD) ist real – und keine „Drama-Queens“

Viele Menschen mit ADHS im Beruf erleben eine extreme Sensibilität für Zurückweisung (Rejection Sensitive Dysphoria).
Ein kritischer Kommentar, ein abfälliger Blick oder ein knappes „Das passt so nicht“ kann sich anfühlen wie ein persönlicher Angriff oder ein tiefer Misserfolg.

Für Außenstehende wirkt die Reaktion überzogen, emotional oder „zu dünnhäutig“.
Für die Betroffenen ist es hochgradig schmerzhaft – und häufig nicht bewusst steuerbar.

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • Feedback klar, aber wertschätzend formulieren: „Die Idee ist stark, der Zeitplan braucht noch Anpassung.“
  • Erfolge und Stärken aktiv ansprechen, nicht nur Fehler korrigieren
  • Auf Körpersprache und Ton achten – wie etwas gesagt wird, ist oft wichtiger als der Inhalt

5. Viele Menschen mit ADHS im Beruf denken unternehmerisch

Risikobereitschaft, schnelles Denken, Lust auf Neues, Mut zu unkonventionellen Wegen – das sind Eigenschaften, die man in Gründerbiografien häufig findet.
Genau diese Merkmale sind bei ADHS-Betroffenen überdurchschnittlich verbreitet.

Sie:

  • sehen Muster, wo andere nur Chaos sehen
  • denken in Chancen statt in Risiken
  • können in unsicheren Situationen erstaunlich ruhig und handlungsfähig bleiben

Starre, stark reglementierte Strukturen bremsen diese Menschen jedoch aus.

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • ADHS-Mitarbeitende in Innovationsprojekten, Business Development oder kreativen Rollen einsetzen
  • Ihnen Raum geben, Ideen zu testen, statt jede Abweichung sofort abzu würgen
  • Klar kommunizieren, wo Experimentieren erwünscht ist – und wo nicht

6. Exekutivfunktionen sind die eigentliche Baustelle – nicht Intelligenz

ADHS ist keine Frage der geistigen Leistungsfähigkeit. Viele Betroffene sind überdurchschnittlich intelligent.
Die Schwierigkeiten liegen vielmehr in den sogenannten Exekutivfunktionen des Gehirns – also in Prozessen wie:

  • planen
  • priorisieren
  • anfangen
  • dranbleiben
  • Aufgaben zu Ende bringen

Das heißt:
Nicht der Inhalt der Aufgabe ist das Problem, sondern die „Aktivierung“ – der Übergang von „Ich weiß, was zu tun ist“ zu „Ich fange an und bleibe dabei“.

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • Fristen konkret machen („bis Mittwoch 14 Uhr“) statt vage („nächste Woche irgendwann“)
  • Regelmäßige kurze Check-ins etablieren statt einmal im Quartal ein großes Review
  • Visualisierung nutzen: Kanban-Boards, Aufgabenlisten, Projekt-Tools, die Fortschritt sichtbar machen

7. Bewegung ist kein Störfaktor, sondern eine Strategie

Viele Erwachsene mit ADHS konzentrieren sich besser, wenn sie:

  • im Meeting kritzeln
  • mit einem Stift oder Stressball spielen
  • beim Telefonat aufstehen und im Raum laufen
  • kurze Bewegungspausen einlegen

Von außen wirkt das unruhig, unkonzentriert oder respektlos. Neurobiologisch ist es oft das Gegenteil: Durch Bewegung wird das Nervensystem reguliert, und der Fokus steigt.

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • „Fidgeting“ in Maßen zulassen, solange es andere nicht stört
  • Steh-Meetings, kurze Walk-and-Talks oder Pausen bewusst fördern
  • Mitarbeitenden erlauben, mit Kopfhörer, Musik oder Geräuschkulisse zu arbeiten, wenn es ihnen hilft

8. Struktur ist keine Fessel – sondern Freiheit

Ein weit verbreitetes Vorurteil:
„Menschen mit ADHS im Beruf hassen Regeln und können mit Struktur nichts anfangen.“

In Wahrheit ist das Gegenteil richtig:
Gute, transparente, nachvollziehbare Strukturen entlasten enorm. Sie reduzieren den inneren Druck, weil Entscheidungen und Prioritäten nicht ständig neu getroffen werden müssen.

Hilfreich sind etwa:

  • klare Tagesroutinen
  • feste Zeitfenster für bestimmte Aufgaben
  • To-do-Listen, visuelle Boards, Reminder-Systeme
  • definierte Prozesse für wiederkehrende Abläufe

Was das für Führungskräfte bedeutet:

  • Strukturen gemeinsam mit den Mitarbeitenden entwickeln, nicht einfach „von oben“ verordnen
  • visuelle Tools nutzen (Whiteboards, digitale Boards, Checklisten)
  • Klarheit schaffen: Wer ist wofür zuständig? Was ist wichtig, was kann warten?

ADHS im Beruf als „anderes Betriebssystem“ im Unternehmen nutzen

ADHS ist kein Defekt und kein Charakterfehler.
Es ist ein anderes Betriebssystem – mit eigenen Stärken und Schwächen, das unter bestimmten Bedingungen überdurchschnittlich leistungsfähig ist.

Führungskräfte, die das verstehen, können:

Konkrete Ansatzpunkte für Unternehmen:

  • Neurodiversität in der Unternehmenskultur explizit wertschätzen
  • Flexible Arbeitsweisen ermöglichen (Remote, Fokuszeiten, Meetingfreie Blöcke)
  • Führungskräfte zum Thema ADHS und andere Formen von Neurodivergenz schulen
  • In Gesprächen offen signalisieren: „Wenn Sie eine Diagnose wie ADS/ADHS haben, ist das kein Karrierehindernis, sondern etwas, das wir gemeinsam verstehen und berücksichtigen wollen.“

ADHS-Betroffene bringen oft genau das mit, was moderne Organisationen dringend brauchen:
Mut, Ideen, Geschwindigkeit, ungewöhnliche Perspektiven und die Fähigkeit, in chaotischen Situationen handlungsfähig zu bleiben.

Statt diese Menschen zu „reparieren“, lohnt es sich, das System Arbeit so anzupassen, dass sie ihr Potenzial entfalten können.

Das ist eine Einladung an alle Führungskräfte, sich aktiv mit ADS und ADHS auseinanderzusetzen – und die Superpower ihrer neurodivergenten Mitarbeitenden bewusst zu mobilisieren.

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